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Dienstag, 1. Dezember 2020

Fragen Sie sich: Muss ich schreiben?

Früher als Verlegerin wurde ich sehr, sehr oft gefragt, ob Manuskripte es wert seien, veröffentlicht zu  werden. 

Auch heute als Beraterin für Autoren, werde ich das sehr oft gefragt. Grundsätzlich finde ich, ist es (fast) jedes Manuskript wert, veröffentlicht zu werden. Nie war es einfacher als heute, Schriften aller Art in der Öffentlichkeit zu verbreiten.

Aber ein kleines bisschen bin ich auch der Ansicht des Dichters Rainer Maria Rilke. An einen jungen Dichter, der damals schon die gleichen Anwandlungen hatte, wie die Autoren heute, schreibt er:

„Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten, und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen.

Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand.

Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben.

Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben? 

Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen - Ich muss dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur.

Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren.“

Quelle: Rainer Maria Rilke,  „Briefe an einen jungen Dichter“

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