Die kurze Geschichte vom kleinen, krummen Baum
Vor vielen, vielen Jahren lebte
einmal ein kleiner Baum mitten im Wald und um ihn herum standen viele andere
Bäume. Es gab zwischen ihm und den anderen einen ganz wichtigen Unterschied:
Die anderen um ihn herum waren groß und reckten sich dem Himmel entgegen, ihre
Äste waren kraftvoll und stark. Und die Blätter sahen frisch und saftig aus.
Der kleine Baum war irgendwie
anders. Er war klein und sein Stamm war krumm, weil er immer so traurig und
unglücklich war. Deshalb wurden auch seine Blätter schon welk und bräunlich.
Sein Zustand sah bemitleidenswert aus.
„Warum bin ich so anders als
die anderen?“, fragte er sich und fing an zu weinen.
Er weinte lange Zeit, so lange,
dass die weise Eule, die von ihm gehört hatte, höchstpersönlich besuchen kam.
Sie setzte sich auf einen Ast und fragte: „Kleiner Baum, warum weinst du so
bitterlich?“
„Kein Ahnung“, antwortete der angesprochene
widerwillig. Nach kurzer Pause fuhr er etwas freundlicher fort: „Ich bin einfach
anders als die anderen. Die anderen sind groß und stark und sehen aus wie
richtige Bäume. Und ich? Ich bin klein und mickerig.“
„Und das bekümmert dich so
dermaßen?“, fragte die weise Eule.
„Ja, natürlich bekümmert mich
das!“, meinte der kleine Baum entrüstet.
„Und warum bekümmert dich das
so?“, fragte die Eule.
„Na, weil… weil… Weil ich
anders bin“, stotterte der kleine Baum.
„Und?“, fragte die Eule etwas
provozierend.
„Wie: Und?“, meinte der kleine
Baum ärgerlich. „Ich will wie die anderen sein. Ich will auch groß und stark
sein, ist doch logisch! Ich will nicht sein wie ich bin. Ich möchte auch
mächtig und groooß und stolz sein.“
„Hmm,“ machte die weise Eule
und sprach dann weiter: „Sehe ich das richtig? Du bist unglücklich, einfach
deshalb, weil du dich mit den anderen Bäumen vergleichst?“
„Ja“, meinte dann der kleine
Baum und dachte nach.
„Was würdest du denn anders
machen, wenn du anders wärst“, hakte die weise Eule nach.
Der kleine Baum war ein wenig verblüfft.
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“ Er dachte einen Augenblick intensiv
nach. Dann sprach er: „Das ist doch ganz einfach: Wenn ich anders wäre, würde
das unglücklich-sein aufhören. Dann wäre ich endlich glücklich! Ja, genau so
ist das!“
„Ach so“, sagte die weise Eule.
„Und warum genau möchtest du denn glücklich sein?“
„Du stellst aber dumme Fragen,
alte Eule! Jeder will doch nur glücklich sein! Jedem geht es doch nur darum! Wenn
ich so wäre wie die anderen Bäume, dann wäre ich natürlich auch glücklich!“
„Was würdest du anders machen,
wenn du glücklich oder zumindest glücklicher als jetzt wärst?“, fragte die weise
Eule unerschrocken weiter.
„Na, ich würde… ich weiß nicht…“,
stotterte der kleine Baum kleinlaut, weil er keine Antwort wusste.
„Erzähl‘ es mir“, sagte die weise,
alte Eule. „Was genau würdest du tun, wenn du glücklich wärst? Was würdest du
verändern?“
„Gar nichts würde ich verändern
wollen. Wenn ich glücklich wäre, bräuchte ich doch nichts zu ändern! Dann würde
ich genau hier leben wollen – nur eben glücklich“, sagte der kleine Baum.
„Aha“, sagte die Eule. „Und
wenn du unglücklich wärst? Was dann?“
„Na, dann würde ich auch hier
sein wollen. Hier ist doch mein Zuhause! Und dann würde ich wieder glücklich
werden.“
„Genau“, sagte die weise Eule und
flog mit kräftigen Flügelschlägen auf und davon.
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